Rechthaberei kommt aus der Steinzeit
Mit einem lauten Klirren fällt das Tablett mit den schönen Kristallgläsern, die nur zu besonderen Anlässen aus der Vitrine geholt werden, auf den harten, gefliesten Küchenboden. „Ich habe nichts gemacht!“ schreit der erwachsene Sohn. Seine Mutter kontert: „Nein, wie immer, hast du gar nichts gemacht, nur gerade die wertvollen Kristallgläser deiner Urgroßeltern zertrümmert.“ Betretenes Schweigen am großen Esstisch im Wohnzimmer, von wo aus wir Gäste die verstreuten Glasscherben sehen. Was für eine blöde Situation, denke ich und erinnere mich an ähnliche Szenen. Ein Ungeschick, ein verletzendes Wort, Streit, Geschrei, Chaos und: niemand will es gewesen sein.
Eigentlich ist es peinlich, wenn erwachsene Menschen nicht zugeben können, wenn sie was falsch gemacht haben. Und doch geschieht das immer wieder. Psychologinnen und Psychologen erklären es mit kulturellen Gründen: Schon als Kind ist uns beigebracht worden, alles ganz richtig zu machen und bloß keine Fehler. Außerdem ist unser Gehirn süchtig danach recht zu behalten, weil es dann mit Glückhormonen belohnt wird. Das kommt aus der Steinzeit. Fehler machen konnte damals schnell lebensbedrohlich werden. Aber auch ein schlechtes Selbstwertgefühl oder zu wenig Empathie für andere kann dazu führen, dass einem der Satz: „Es tut mir leid, das war mein Fehler“ einfach nicht über die Lippen kommt. Dabei kann eine Entschuldigung sich sehr gut anfühlen und befreiend wirken. Ein Experiment aus den 80ern erzählt davon. Damals hat der amerikanische Konzeptkünstler Allan Bridge folgende Idee. Er richtet die „Apology Line“ ein, ein Entschuldigungs-Telefon. Jeder und jede kann dort anrufen und sich anonym für ein Verhalten gegenüber einem Mitmenschen entschuldigen. Was als Kunstexperiment beginnt, wird schnell ernst, denn die Leute überrennen Bridge mit Anrufen. Sie erzählen Alltagsgeschichten von vergessenen Terminen und Wutausbrüchen, bekennen Lügen und Diebstähle und reihen ein Schuldbekenntnis ans andere. Am Ende sind es über 1000 Telefonstunden, gefüllt mit Entschuldigungen wegen kleiner, aber auch manch schwerwiegender Ereignisse. Anscheinend hat der Künstler einen Nerv getroffen.
Wenn wir ehrlich auf uns schauen, wissen wir: wir sind nicht perfekt. Immer wieder liegen wir mal falsch mit dem, was wir tun oder sagen, vergessen oder unterlassen. Man tritt in ein Fettnäpfchen, schätzt eine Situation falsch ein oder man vergisst den Geburtstag der besten Freundin. Wie gut, wenn man dann jemanden hat, der zuhört oder mitdenkt, wie man die Dinge klären und selbst wieder in die Balance kommen kann. Schon im 6. Jahrhundert haben Mönche aus Schottland und Irland eine geniale Idee. Sie bringen die sogenannte Ohrenbeichte nach Europa. Ein vertrauenswürdiges Gespräch, das unter dem Beichtgeheimnis steht und dessen Ziel ist selbstkritisch neu anzufangen. Das gibt es bis heute, auch bei uns Evangelischen. Und es geht dabei nicht darum Menschen klein zu machen, sondern darum aufrichtig, glaubwürdig und gemeinschaftsfähig zu bleiben.
Pfarrerin Jacqueline Barraud-Volk ist geschäftsführende Pfarrerin in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Bad Kissingen