Evangelium
In jener Zeit, als Jesus mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho verließ, saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!
Viele befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her!
Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.
Und Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.
Markusevangelium 10,46–52
So mancher Familienkrach ist entstanden, weil es jemand gut meinte: Die Großeltern, die mit ihren ungefragten Ratschlägen den jungen Eltern vermittelten, dass sie die Erziehung der Kinder nicht im Griff haben; die Kinder, die den betagten Eltern einen neuen Fernseher schenkten, der sie aber technisch total überforderte; die Mutter, die ihrem Sohn und dessen Frau unbedingt die neue Küchenmaschine schenken wollte, obwohl die gar kein Interesse am Kochen haben. Manchmal ist das Gegenteil von gut gut gemeint.
„Deine Liebe klebt, du gehst mir auf den Geist“, singt Herbert Grönemeyer über zu viel gut gemeinte Zuwendung. Die entsteht, wenn Menschen nicht fragen, was der andere will. Wenn sie ihnen ihre Ideen überstülpen und sie bevormunden. Weil sie zu wissen glauben, was gut für den anderen ist – und weil sie ihn zu seinem Glück zwingen wollen.
In der Geschichte von der Heilung des blinden Bartimäus ist das anders. Jesus sagt ihm nicht, was er tun soll, um geheilt zu werden. Er fragt ihn: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Eine zentrale Haltung: Nicht ich sage dir, was gut für dich ist. Du sagst selbst, was du brauchst! Eine Haltung, die auch der Kirche gut zu Gesicht stünde, meint auch der vor ein paar Jahren verstorbene Dichter und Priester Lothar Zenetti. Im Gedicht „Fragen“ schreibt er:
„Wenn ich euch so zuhöre und betrachte mir
die Programme eurer Gemeinden, ihr Christen,
dann kommen mir Fragen; verzeiht:
Sind die Hungernden nicht mehr hungrig,
die Dürstenden nicht mehr durstig,
die Bedürftigen nicht mehr bedürftig?“
Gerade in Zeiten, in denen helfende Hände und Geld knapp werden, muss man sich fragen, wofür man seine Ressourcen einsetzt. Jesus hat schließlich nicht gesagt: Feiert Pfarrfeste, baut in jedem Ort eine Kirche, habt fromme Gottesdienste. Er hatte einen sehr praktischen Auftrag für seine Nachfolgerinnen und Nachfolger: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
Einfach weitermachen, weil es immer schon so war?
Ohne Gotteshaus und Gottesdienst kommt eine Kirche nicht aus. Ohne Gott wird sie zur „frommen Nichtregierungsorganisation“, wie Papst Franziskus warnt. Dennoch ist die Frage erlaubt, ob die Schwerpunkte stimmen. Etwa wenn mit viel Kraft und Einsatz eine Fronleichnamsprozession organisiert wird, an der kaum noch Menschen teilnehmen. Wenn aus den Rücklagen der Vergangenheit ein neues Pfarrzentrum gebaut wird, das in zehn Jahren vielleicht niemand mehr braucht. Oder wenn die Osternacht weiter morgens um 6 Uhr angeboten wird, weil es „immer schon so war“, auch wenn immer weniger Menschen kommen. Auf der Ebene eines Bistums oder des ganzen Landes finden sich bestimmt auch Beispiele, wo Geld und Energie eher der Selbstbeschäftigung einer Institution dienen.
Was würde passieren, wenn die Frage „Was willst du, dass ich dir tue?“ ins Zentrum kirchlichen Handelns gestellt würde? Dem Vorbild Jesu zu folgen, ist nicht ohne Risiko. Die Antworten könnten uns in unseren kirchlichen Grundfesten erschüttern. Oder doch nicht? Die Werke der Barmherzigkeit hat Jesus doch schon aufgezählt. Nun ist die Frage: Wissen wir, wer in unserer Gemeinde die Armen und Bedürftigen sind? Was machen wir für die Trauernden, die Einsamen, die Kranken, die Ängstlichen, die Alleinerziehenden?
Viele sagen: „Ich glaub’ nichts, mir fehlt nichts“
Das Bistum Osnabrück bietet Freizeiten für Alleinerziehende an. Kaum waren jüngst die Angebote für das nächste Jahr veröffentlicht, waren sie ausgebucht. In vielen Orten gibt es Trauercafés, manche Seelsorgerinnen und Seelsorger bieten Gesprächszeiten an, manchmal direkt auf dem Friedhof. In der Corona-Zeit berichteten Pfarrer von gewagten Experimenten. Einer nutzte die freie Zeit, um sich vor die Kirche zu setzen und sich als Gesprächspartner anzubieten. Ein anderer rief Senioren aus seiner Gemeinde an, einfach nur um zu fragen, wie es ihnen gehe. Dankbares Staunen war die Folge. Die Menschen freuten sich, gesehen zu werden.
Was willst du, dass ich dir tue? Sich zum Pfarrfest zu versammeln, miteinander die gewohnte Gemeinschaft zu genießen und Gott am Sonntag in würdiger Liturgie zu begegnen – all das sind auch berechtigte Antworten auf diese Frage. Aber eben nicht nur.
Was willst du, dass ich dir tue? Diese Frage muss ohne Hintergedanken gestellt werden. Es geht nicht darum, etwas für Menschen zu tun, damit sie sich an die Gemeinde binden, zum Gottesdienst kommen, sich bei Kolping oder in der Frauengemeinschaft engagieren. Es geht darum, Menschen um ihrer selbst Willen einen Dienst zu tun.
Und doch wird man sich nie von der Hoffnung freimachen können, dass sich andere Menschen von der frohen Botschaft anstecken lassen. Darum geht es ja schließlich auch: die Botschaft von der liebenden Gegenwart Gottes spürbar werden zu lassen, sie zu verbreiten und so die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung aus dem vergangenen Jahr hat gezeigt, wie stark Glaube und Kirchenbindung schwinden. „Ich glaub’ nichts, mir fehlt nichts“, ist eine Haltung vieler Menschen unserer Zeit. Mit klugen Worten wird man sie nicht erreichen können. Was zählt, ist das Zeugnis. Und das beginnt, wenn man dem Nächsten ernsthaft die Frage stellt: „Was willst du, dass ich dir tue?“
Ulrich Waschki